Sagen wir mal so: Wenn ich beginne, mich selbst zu belügen, indem ich mir sage, dass ich die Kaffeetasse heute schwerer heben kann als gestern, weil ich ja zum Beispiel nicht gut geschlafen habe, dann leuchtet ein imaginäres Warnsignal vor meinem inneren Auge. „Stopp! Veralbern kannst Du jemand anderes!“
Es gibt sehr wohl einen fühlbaren Unterschied zwischen dem Kraftverlust, weil ich müde oder erschöpft bin, und dem, der durch die Verschlechterung der Behinderung eintritt. Wer fünf Jahrzehnte Erfahrung damit hat, mit einer solchen Diagnose zu leben, kann sich selbst nichts vormachen. Mich selbst zu belügen, bringt also gar nichts. Und schon gar kein Seelenheil.
Die Frage, ob ich andere Menschen belüge, kann ich mit einem klaren „Ja“ beantworten. Schockierend? Vermutlich. Das Wort Lügen ist in diesem Zusammenhang aber auch zu drastisch. Es ist eher ein Dehnen der Wahrheit, ein Verschleiern oder eine Ausrede. Ich bitte einfach jemanden darum, mir einen Handgriff abzunehmen, den ich sonst alleine kann und kommentiere das entweder nicht, oder behaupte irgendetwas Schwammiges zur Erklärung, warum ich es nicht selbst mache. Interessanterweise merkt sowieso kaum jemand anderes etwas von meinem gefühlten Kraftverlust. Zu beobachten ist das nämlich für andere Menschen sehr selten. In 99% aller Fälle übernehmen die Leute dann einfach das, worum ich sie gebeten habe, und gut ist es. Und die 1%, die es merken, belüge ich auch nicht. Diese 1% kennen mich sowieso zu gut, sehen sowieso, was Sache ist, und haben die Wahrheit verdient. Diese 1% sind mein Partner und meine Familie.
Vielleicht geht es anderen Menschen mit einer Spinalen Muskelatrophie ebenso. Ich habe mir jedenfalls schon vor Jahren ein bestimmtes Gewicht als Fixpunkt ausgesucht. In diesem Fall ist es ein Salzstreuer.
Ein ganz schön schweres Ding. An Tagen, an denen ich stark bin, salze ich mein Essen damit problemlos. An anderen Tagen, wenn es im Herbst kräftemäßig nicht gut um mich bestellt ist, kann ich ihn kaum heben. Auch hier hilft es nicht, wenn ich mich belüge und mir einreden will, das Essen sei salzig genug und abgesehen davon ist es sowieso gar nicht gesund, so viel Natrium zu sich zu nehmen. Der Blutdruck!
Nein, das habe ich ja bereits erwähnt, mich selbst veralbern, klappt nicht.
Warum mache ich den Salzsteuer-Test? Die Antwort liegt doch auf der Hand, oder? Weil ich Angst vor der Verschlechterung habe. Jeder Muskelkranke lebt immer mit dem Gedanken „wie geht es weiter?“ im Hinterkopf. Kann ich während der Salzstreuer-Tage nur fades Essen genießen, so weiß ich doch – bis jetzt zumindest – dass diese Phasen nach einem Weilchen auch wieder vorbeigehen. Schon kurze Zeit später greife ich, ohne groß nachzudenken nach dem Gewürz. Und dann ist der Salzsteuer auf einmal gar nicht mehr so schwer. Das ist beruhigend und freut mich so lange, wie es eben dauern wird, bis es dann irgendwann – in hoffentlich weiter Zukunft – nicht mehr funktioniert.
An manchen Tagen fühlt sich der Salzstreuer wie ein Betonklotz an. Diese Tage nenne ich „Salzstreuer-Tage“.
Wenn ich meine Kraft heute mit der von vor 30 oder 40 Jahren vergleiche, sehe ich einen deutlichen Unterschied. Was ich aber nicht sehe – und das beruhigt vielleicht Eltern von Kindern mit SMA oder junge Erwachsene, die selbst betroffen sind – ist ein Verlust von Lebensqualität. Nur, weil ich Dinge nicht mehr alleine kann, die mir früher leichtfielen, habe ich kein bisschen an Lebensqualität, Leichtigkeit oder Humor eingebüßt. Das muss also nicht unbedingt Grund zur Sorge werden – solange man generell stabil im Leben steht.
Der Verlust von Muskelkraft geht trotzdem natürlich immer einher mit etwas Stress und dem Rattern des Gedankenkarussells. Auch wenn ich nach Kraftverlust-Phasen im Herbst immer wieder fast auf das vorige Level zurückkomme, so ist das doch eine Zeit, in der meine Gedanken um dieses Thema kreisen. Dabei bin ich nicht besonders ängstlich, sondern eher genervt.
Perspektivisch gesehen werde ich nicht kräftiger. Für mich hat es sich daher bewährt, bereits dann schon nach Lösungen zu suchen, wenn ich sie noch gar nicht brauche. Das erstreckt sich von Hilfsmitteln bis hin zu persönlicher Assistenz. Kein Mensch kann sagen, wann und ob ich auf einmal wieder so drastisch Kraft verliere, wie nach meinem Autounfall (siehe Teil 1). Sollte es so sein, habe ich aber vorgebaut. Sollte ich meine Vorsichtsmaßnahmen nicht benötigen, umso besser!
Wir alle, die mit SMA leben, wissen, was Sache ist. Eigentlich ist das doch eine feine Sache, oder? Wir können uns heute ganz transparent informieren, es gibt verschiedene Therapieformen in Form von Medikamenten, Physiotherapie usw., der Markt ist überschwemmt mit Hilfsmitteln aller Art und wir leben im Zeitalter der Digitalisierung und von Smart-Homes. Die Unterstützung und Hilfe, die jeder individuell für sich wünscht, ist in den meisten Fällen erhältlich.
In den vergangenen Tagen ist mein Nachbar mit Covid-19 verstorben und ein anderer liegt final erkrankt im Hospiz. Eine gute Freundin von mir hat einen Burnout, der Mann einer Kollegin erhält im Moment eine schwer zu ertragende Chemotherapie. Ich könnte noch ein paar andere Beispiele aufzählen, aber ich denke, Ihr wisst, was ich meine.
Ich habe eine fortschreitende Muskelerkrankung, bin aber ansonsten gesund. Ich habe alles im Leben, was ich mir wünsche, und bin, um auf meinen vorherigen Beitrag einzugehen, daher immer noch „Herkules“. Nur jetzt, mit 50 Jahren, eben eher weniger körperlich als psychisch!
Hinweis: Erkennbare Markennamen sind willkürlich gewählt und dienen ausdrücklich nicht der Produktplatzierung. Biogen nimmt keinerlei Einfluss auf Umsatzgeschäfte der auf SMAlltalk sporadisch erkennbaren Markenhersteller und es bestehen diesbezüglich keinerlei Erwartungen.
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